Bewertung: Erfahrungen mit der Online-Mediationsausbildung
Als am 17. März 2020 alle Bildungseinrichtungen in Deutschland ihre Pforten schließen mussten, standen die Ausbildungsinstitute für Mediation vor einem Scheideweg: Sollten sie ihre Kurse verschieben, bis der traditionelle Präsenzunterricht wieder möglich ist? Oder sollten sie den Schritt wagen und ihre Curricula auf digitale Formate umstellen? Diejenigen, die sich im Frühjahr für den letzteren Weg entschieden haben, können heute auf wertvolle Erfahrungen mit einer Lehrform zurückgreifen, die noch vor einem Jahr ein Exot in der Mediatorenausbildung war. Damals galt es als innovatives i-Tüpfelchen der Mediationsausbildung, den Teilnehmern eine Prise Expertenwissen zum Zukunftsthema Online-Mediation zu servieren. Nur wenige Ausbildungsinstitute behandelten dieses vermeintliche Nischenthema überhaupt im Rahmen der Grundausbildung zum zertifizierten Mediator. Heute haben die Absolventen dieser Frühjahrskurse die digitale Zukunft der Mediation bereits in vielen Stunden am eigenen Leib erfahren.
Aber wie haben sie die digitale Lernumgebung über Nacht erlebt? War es überhaupt möglich, die praktische Methode der Mediation im virtuellen Klassenzimmer zu erlernen? Empfanden die Teilnehmer es als Defizit, in einem Rollenspiel zwischen zwei nur als Kacheln auf dem Bildschirm sichtbaren Konfliktparteien zu vermitteln? Oder konnten sie sich vielleicht sogar besser konzentrieren und wurden so ganz nebenbei zu kompetenten Online-Mediatoren?
Die Auswertung von Fragebögen, die von den Absolventen zweier Ausbildungsgänge des CONSENSUS-Campus-Instituts beantwortet wurden, liefert einen aufschlussreichen Beitrag zur Diskussion um die Vergleichbarkeit von virtueller und physischer Präsenz in der Mediationsausbildung. Insgesamt haben 15 Personen an der Befragung teilgenommen. Die für beide Gruppen identischen Fragebögen enthielten sechs einfache Fragen, bei denen die Teilnehmer einen Schieberegler auf einer Skala von 0 bis 100 % bewegen konnten. Zusätzlich konnten zu jeder Frage individuell formulierte Kommentare abgegeben werden, sowie ein abschließender Kommentar "Allgemeine Anmerkungen zu der Frage Online- oder Offline-Unterricht/Vor- und Nachteile".
1) Allgemeine Online-Erfahrung
Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit dem Online-Modul gemacht? (Skala: Schieberegler 0= nicht nützlich; 100= sehr nützlich)
Durchschnittliches Ergebnis: 92,5
2) Details zur Online-Erfahrung
2.1 Wie beurteilen Sie den Wissenstransfer online? (Skala: Schieberegler 0= nicht gut; 100= sehr gut)
Durchschnittliches Ergebnis: 95,5
Kommentare zum Wissenstransfer online:
- Volle Konzentration auf den Bildschirm und die Stimme
- Vor allem die theoretische Einführung ist offline wenig sinnvoll, wenn sie nicht interaktiv vermittelt werden kann. Ich würde es immer vorziehen, dies online zu tun.
- Bessere Konzentration und Aufnahmefähigkeit durch Online-Raum
- Der reine Wissenstransfer ist online genauso gut möglich wie offline und spart Zeit bei langen Anfahrtswegen.
- Ihre eigene Umgebung kann zur vollen Konzentration genutzt werden
- Längere Konzentrationszeiten, Reaktionen werden besser wahrgenommen
2.2 Wie gut haben die Gruppendiskussionen online funktioniert? (Skala: Schieberegler 0= nicht gut; 100= sehr gut)
Durchschnittliches Ergebnis: 88,5
Kommentare zur Gruppendiskussion online
- Das Gefühl, dass alle ein bisschen kürzer werden - das ist gut!
- Ich habe sogar festgestellt, dass sie online aktiver sind. Trotzdem hat die Vernetzung vor Ort natürlich einen Mehrwert. Alles, was vor Ort Sinn macht, sollte auch vor Ort durchgeführt werden (d.h. vor allem Live-Mediation in all ihren Varianten)
- Online-Diskussionen verlaufen reibungsloser
- persönliche Aufmerksamkeit, Blickkontakt, Körperhaltung, Gesten fehlen online
- Gespräche lassen sich - vielleicht auch aus Gewohnheit - im direkten Kontakt mit dem Gesprächspartner leichter führen.
- Einen besonderen Vorteil hatte es nicht. Trotzdem konnte ich der ganzen Sache viel Positives abgewinnen. Ich würde sagen 50:50
2.3 Wie gut haben Mediationssimulationen aus Ihrer Sicht online funktioniert? (Skala: Schieberegler 0= nicht gut; 100= sehr gut)
Durchschnittliches Ergebnis: 82,7
Kommentare zu Mediationssimulationen online
- Gute Konzentration auf das Thema, weniger Gerede
- War online irgendwie persönlicher, aber je nach Situation auch offline besser für die reale Erfahrung z.B. (was passiert, wenn jemand aus dem Raum läuft, etc. Solche Dinge erlebt man physisch besser im Training vor Ort)
- Als Anfängerin fehlt es mir an Raum, Bewegung im Raum, Körpersprache usw.
- Sie können offline besser spontan reagieren
- Auch hier finde ich offline und online gleich gut. Vielleicht der Vorteil, sich auf einen Bildschirm zu konzentrieren
- Besseres Beobachten und Reflektieren des Verhaltens der anderen - alles auf einem Bildschirm
3) Selbsteinschätzung
3.1 Wie sehr stimmen Sie dieser Aussage zu? Ich fühle mich in der Lage, eine Mediation selbstständig durchzuführen.
(Skala: Schieberegler 0= absolut nicht; 100= ich fühle mich voll fähig)
Durchschnittliches Ergebnis: 86,7
3.2 Wie sehr stimmen Sie dieser Aussage zu: Ich fühle mich in der Lage, ONLINE-Vermittlungen selbständig durchzuführen.
(Skala: Schieberegler 0= absolut nicht; 100= ich fühle mich voll fähig)
Durchschnittliches Ergebnis: 78,5
Kommentare:
- Ich weiß alles in der Theorie, aber ich brauche noch Übung, um mich sicher zu fühlen.
- Abhängig von der Einstellung
- Ich habe bereits eine Online-Mediation durchgeführt
- Ich fühle mich immer noch wie ein Anfänger, aber das ist wohl normal
- Simulationen sind keine echten Mediationen - das muss ich jetzt üben
4) Vergleich
Welche Erfahrung war für Sie wertvoller? (Schieberegler zu zwei Pools: Online-Schulung vs. Präsenzschulung)
Durchschnittliches Ergebnis: 52
Allgemeine Bemerkungen
- Beides (offline und online) gut
- Online werde ich weniger von der Gruppe abgelenkt und kann mich daher besser auf meine Rolle und meine Gefühle in der Gruppe konzentrieren.
- Beide Formate haben Vor- und Nachteile. Die Mischung aus Präsenz- und Online-Training war erfolgreich!
- Online fühlt man sich in einer geschützten Umgebung.
- Könnte sich besser auf mich konzentrieren, online
- Verpasste Körpersprache online
- Inhaltlich ja, aber die Körpersprache hat gefehlt. Aber da in meinem Fall die Online-Vermittlung in Zukunft wahrscheinlich die Hauptrolle spielen wird, habe ich mit virtuellen Teams wenig Möglichkeiten.
- Offline: Besseres Gefühl für Raum und Menschen, bessere Spürfähigkeit, Üben von Körpersprache, Körperhaltung und Präsenz im Raum sowie Umgang mit dem Flipchart
- "von Angesicht zu Angesicht" ist realer
- Reaktion von allen besser online wahrnehmbar (alle auf einem Bildschirm
- Vermisst einfach die Vernetzung, kitchentalk und so online
- Kein Platz für "zwischen den Zeilen" online
- online: klarere Struktur, wer spricht, hat das Sagen
- Beide Formate haben Vor- und Nachteile. Die Mischung aus Präsenz- und Online-Training war erfolgreich!
Schlussfolgerung
Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie stellten für die Ausbildungseinrichtungen eine große Herausforderung und zugleich eine historische Chance dar. Von heute auf morgen war die Option "alles bleibt wie es war" vom Tisch. Wenn dies in einer Mediationssitzung geschieht, kann es die Konfliktparteien zunächst in eine Art Schockstarre versetzen, aus der durch erfolgreiches Empowerment ein Sturm kreativer, innovativer Ideen entfesselt werden kann. So haben eine Reihe von Mediationsausbildungsinstituten in der Corona-Krise ihr kreatives Potenzial freigesetzt und ihre Curricula in kürzester Zeit in einem wahren Kraftakt auf Live-Online-Unterricht umgestellt. Die Teilnehmerbefragung zeigt sehr eindrucksvoll, wie gut dies gelungen ist, wohlgemerkt trotz mangelnder Erfahrung und Unsicherheit bei Lehrenden und Lernenden über die Möglichkeiten des virtuellen Klassenzimmers. Die hohen Prozentzahlen sprechen für sich, können aber dennoch kaum widerspiegeln, mit wie viel Freude und Inspiration die Teilnehmer als "Online-Pioniere" am Werk waren und welch enger Zusammenhalt sich in beiden Gruppen entwickelte. Es bleibt festzuhalten: Die vorliegenden Ergebnisse sind ein starkes Indiz dafür, dass die wesentlichen Kompetenzen einer Mediationsausbildung auch im Wege des Live-Online-Unterrichts vermittelt werden können; darüber hinaus wird die Kompetenz zur Online-Mediation vermittelt, die umgekehrt in einem traditionellen Präsenzunterricht ausgespart wird. In den nun gestarteten Herbstkursen, die ebenfalls im Zeichen der Pandemie stehen, ist die digitale Transformation bereits weit fortgeschritten: Die Trainerinnen und Trainer sind viel digitaler versierter und verfügen über eine ganze Reihe von interaktiven Tools, um den Unterricht im virtuellen Raum spannend und handlungsorientiert zu gestalten. Die Teilnehmer bringen mehr digitale Kompetenz aus ihrer beruflichen Praxis mit und legen explizit Wert darauf, neben der klassischen Vermittlungskompetenz auch die zunehmend geforderte Kompetenz der Live-Online-Vermittlung zu erwerben, die längst nicht mehr einem kleinen Kreis von Experten vorbehalten ist. Live-Online-Formate eröffnen völlig neue Möglichkeiten, sowohl die Mediationsausbildung als auch die Mediation als Prozess nachhaltiger, kostengünstiger und internationaler zu gestalten. In einem virtuellen Kreis können sich Menschen treffen, die sich in einem physischen Raum nie begegnet wären. Die Mediationsausbildung im virtuellen Klassenzimmer ist daher keineswegs nur eine pandemiebedingte Notlösung. Vielmehr ist sie eine wichtige Ergänzung zum analogen Präsenzunterricht, die für die Zukunftsfähigkeit der Mediation entscheidend ist und in keinem zeitgemäßen Ausbildungskonzept fehlen sollte.